Thema: Mensch oder Melanom?

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el-supremo Erstellt am Mi 04.01.2006
Im Januar ist der Himmel oft grau über Deutschland. Sehr grau. Das schlägt vielen Leuten aufs Gemüt.
Die Folge: Depression breitet sich aus.
Viele verzichten zu dieser Jahreszeit nur deshalb auf Selbstmord, weil sie fürchten, dass es im Jenseits keinen Günther Jauch gibt. Womöglich ist Gott da, schön und gut, aber der ist ja nun bei weitem nicht so sympathisch und somit kein befriedigender Ersatz. Also beschließt man, sich irgendwie im Hier und Jetzt einrichten, bis wieder bessere Tage kommen.
Essentieller Bestandteil dieser Unternehmung ist für viele Bundesdeutsche das Sonnenstudio. Während der anderen Jahreszeiten überwiegend von Friseurinnen, Türstehern und Leuten aus der Werbebranche genutzt, fallen im Winter plötzlich selbst ansonsten vernunftbegabte Menschen in Horden in die Studios ein.
Neben dem kosmetischen Effekt einer Bräunung versprechen sie sich von den zwölf bis zwanzig Minuten in eigenem Sud vor allem einen lichttherapeutischen Nutzen, der ihnen mental über die vierzig bis fünfzig Minuten pro Woche hilft, in denen Günther Jauch nicht im Fernsehen zu sehen ist.
Um das Wonnegefühl noch zu steigern, versuchen viele zudem, sich während der Bratzeit mit verschlossenen Augen einen subtropisches Szenario herbei zu suggerieren, weißer Sand, grünblauer Ozean, seichte Winde durch Palmen, doch kommen sie aufgrund der heftigen Lüftungsgeräusche der Sonnenbank mit ihrer überforderten Fantasie oft nicht weiter als bis zum Flughafen von Palma de Mallorca. Aber immerhin, für einige Minuten ein Rollfeld irgendwo im Süden vor dem geistigen Auge ist im Januar allemal mehr wert als eine real existierende Dachterrasse, und so gehen sie drei Tage später einfach wieder hin.
Der Grundstein für die Sucht ist gelegt. Tanorexia nennt das der Fachmann, die Sucht nach brauner Haut, nicht zu verwechseln mit Tannophobie, der Angst vor Weihnachtsbäumen. Bald schon lässt man die ersten Sitzungen beim Therapeuten sausen und geht statt dessen lieber gleich in die Röhre. Das wird zwar nicht von der Krankenkasse bezahlt, dafür aber ist man hier nach den ersten zehn Sitzungen wenigstens schon mal äußerlich ein besserer Mensch. Plötzlich sieht man nach Erfolg aus, auch wenn die größte Leistung der vergangenen Monate noch darin bestand, dass man daheim vorm Fernseher bei der einen oder anderen 16.000-Euro-Frage richtig gelegen hatte.
Dabei birgt das häufige Bräunen viele Gefahren. Hautkrebs, Falten, Ächtung von Passanten, um nur einige der Langzeitrisiken zu nennen. Die Kurzfristigen sind hinlänglich bekannt: Verbrennungen ersten bis zweiten Grades sowie Kontakt zu den Solariumsangestellten. So manch einer ist schon vom ersten Gang ins Sonnenstudio nach Hause zurück gekehrt und hat seinem Partner erklärt, Kinderzeugung sei mit ihm nicht länger zu machen, zu groß sei die Gefahr, dass das Kind geistig behindert zur Welt kommt.
Entsprechend ist der erste Schritt zur Verbrennung der Glaube, mit einer Beratung sei man auf der sicheren Seite. Hierbei handelt es sich um ein entscheidendes Missverständnis: Röhrenputze im Sonnenstudio ist kein Ausbildungsberuf. Fachkompetente Auskunft ist von ihnen nicht zu erwarten. Sie reflektieren über den Einfluss von UV-Strahlung auf die menschliche Haut ungefähr so viel wie eine Steckrübe über Genmanipulation. Da kann man sich, statt sie um Rat zu fragen, genau so gut gleich mit einem Bunsenbrenner fönen, das spart Zeit und Geld.
Allerdings sollte man sich dabei nicht erwischen lassen, wird dies in Bräunungskreisen doch als illegales Doping angesehen und mit einem Aufenthalt in einem Gothic-Club nicht unter zwei Stunden bestraft.
Wettbewerbsverzerrung ist das Stichwort, denn darum geht es beim Bräunen immer irgendwann. Die beiden entscheidenden Eigenschaften, die einer haben muss, um immer noch besser bzw. brauner zu werden, sind: eine genetische Disposition zu Suchtverhalten (ähnlich wie bei Alkoholikern) sowie eine große innere Leere (exakt wie bei Alkoholikern).
Am Ziel seiner Träume ist der manisch getriebene Bräuner erst dann, wenn er beim Anblick einer rostigen Pfanne denkt, er stünde vor einem Spiegel.
Für viele jedoch ist dieses fragwürdige zugleich ein utopisches Unterfangen, gerade in den Neuen Bundesländern, erreichen hier doch eben jene, welche ansonsten bei schmackhaftem Discountbier mitunter auf die Überlegenheit der weißen Rasse anstoßen, trotz UV-Abo teintmäßig oft nicht mehr als eine merkwürdiges Orange, und das, wo sie doch von innen heraus bereits vorgebräunt sind, ein Nackenschlag der Natur, wie er ironischer kaum sein könnte.
So kann man jedem, der sich mit dem Gedanken trägt, ein Solarium aufzusuchen, um seine Winterdepression wegzutoasten, nur raten: Guckt euch die Leute an, die schon braun sind, bzw. orange. Wollt ihr so aussehen? Wollt ihr so sein?
Einmal vom künstlichen UV angefixt, werdet ihr so schnell nicht wieder vernünftig. Und das alles wegen eine bisschen Schwermut?
Seien wir doch mal ehrlich, eine reelle Depression ist bei den meisten von uns oft noch das einzige, was überhaupt auf so etwas wie Charakter schließen lässt. Entsprechend sollte man sich dieser saisonalen Segnung wahrlich nicht berauben. Mit dem Frühling kommt stets auch die Zeit zurück, in der wieder jeder merkt, was für eine gedankenarme Bratzbirne man doch ist.
Ist es nicht schön, wenn man dann auf die eine oder andere Narbe an seinem Handgelenk verweisen kann, einen stümperhaften Wangendurchschuss oder eine tablettenbedingte Leberverhärtung, die den Mitmenschen zeigt, auch ich habe lichte Momente, wenn auch nur in der dunklen Jahreszeit?
So gehet vorbei an den Strahlungstempeln, liebe Leut´, und kehret zurück zu euch selbst und den Tiefen, die das menschliche Sein ebenso markieren wie die Höhen.
Nur wer die Täler durchschreitet, findet irgendwann einen Skilift, womit wir auch abschließend bei der einzigen Gruppe sind, der ein regelmäßiger Gang auf die Sonnbank gestattet sei: Den Alpinisten.
Das Haupt gebräunt, der Körper jedoch quarkfarben; da sieht man nackt schnell aus wie ein Domino-Eis und erntet beim Apres-Apres-Ski eher Gelächter als jene saftigen Früchte des Eros, deretwegen man sich überhaupt nur aus der Thermohose schälte.
Doch für alle anderen soll gelten: Ein Hoch aufs Tief!
So viel Mensch wie jetzt seid ihr erst wieder im nächsten Januar.


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