Thema: Die leere Krippe

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Gelöschter Benutzer Erstellt am Mo 24.12.2007
Von Heribert Prantl
Früher hatte das Kind keine Eltern, sondern nur Ochs und Esel. Früher: das ist 1600 Jahre her. Die ersten Darstellungen von Christi Geburt stammen aus dieser Zeit - und darauf gibt es keine Maria und keinen Joseph, keine Engel, keine Drei Könige, sondern nur das Kind im Trog und diese zwei Viecher. Sie sind, durch alle Variationen der ost- und der westkirchlichen Kunst, das konstanteste ikonographische Element neben dem Kind. Das kommt wohl daher, dass erst Ochs und Esel dessen Liegestatt als Futtertrog kenntlich machen. Sie stehen da anstelle der geflügelten Wesen, die ansonsten die Throne der Mächtigen bewachen, und sie markieren die Krippe als einen Offenbarungsort.
Maria braucht ein paar Jahrhunderte, bis sie ihren Platz findet; und erst dann, als sie ihn fest hat, findet zögernd auch Joseph, in Andachtsstellung, den seinen; meistens darf er eine Kerze halten. Das Bild der Maria, die sich um ihr Kind kümmert, wandelt sich im Lauf der frühen Jahrhunderte; es wandelt sich zur Madonna, die das Kind anbetet. Und später, in der frühen Neuzeit, wird aus der sozialrevolutionären Maria des Magnificat ein Musterexemplar an Hausfrau, die brav am Spinnrad sitzt; der heilige Joseph wird zu einem Musterexemplar an Ehemann, der sich nicht aushäusig herumtreibt, sondern still im Hintergrund arbeitet; und das Kind wird zum Musterexemplar an Kind, demütig und den Eltern gehorsam, Exempel der Tugend.
Die so arrangierte Heilige Familie hat ihren mystischen Charakter verloren, sie ist keine Allegorie mehr auf die Dreifaltigkeit, sondern wird moralapostolisch genutzt; sie verkörpert nun die profanen Ideale der christlich-konservativen Hauslehre: Häuslichkeit, Keuschheit, Genügsamkeit. Diese Heilige Familie soll lehren, "wie man auch im Stande der Dürftigkeit und Armut heiter und zufrieden sein kann". So schreiben es die christlichen Haus- und Familienbücher vor hundert Jahren und ermahnen dazu, sein soziales Schicksal, also die Armut, gottgegeben auf sich zu nehmen und so "unermessliche Reichtümer für den Himmel zu sammeln". Aus dem Erlöser ist hier ein Vertröster geworden.
Verschwörung von Ochs und Esel
Ochs und Esel haben all diese Wandlungen und Interpretationen ertragen und sich auch nicht darüber beklagt, dass sie im Weihnachtslied-Repertoire nicht vorkommen. Sie haben erlebt, wie sich die Kirche bemühte, die Jungfräulichkeit Mariens zu erklären, wie aus der jungfräulichen Geburt eine Geburt ohne Schmerzen wurde, imaginiert als eine Art Lichtgeburt, wie schließlich alles Sexuelle zum Merkmal eines Befleckungssystems gemacht wurde und wie sich auch gute Katholiken schwer taten, wenn ihnen Maria und Josef als Vorbilder vorgestellt wurden: Was sollten sie anfangen mit dem Ideal einer asexuellen Josefs-Ehe, die bei wörtlicher Befolgung kinderlos bleiben musste, aber damit dann dem göttlichen Fortpflanzungsgebot widersprach? Die Heilige Familie ist als unheilige Familie eigentlich viel eher zum Vorbild geeignet: Wie aus problematischen, eher suspekten Umständen - Maria bekommt ein Kind und weiß nicht von wem, Josef muss als Ziehvater herhalten - Heil erwächst.
Ist es nicht ein Weihnachtswunder, dass auf so verwirrendem religiösem Grund so viel und so große Kunst entstanden ist? Vielleicht ist es auch ein kleines Wunder, dass so viele Leute, die sonst kaum mehr singen, sich an Weihnachten dazu bewegt fühlen, sei es aus Anteilnahme oder Pflichtbewusstsein, aus Rührung oder Erinnerung. Und wenn es so ist, dass Weihnachten die Menschen zum Singen bringt, dann könnte es ja sein, dass es auch die Tiere zum Reden bringt, wie das die Erzählungen von Jules Supervielle und viele Legenden für die Christnacht berichten. Wer Ochs und Esel da belauscht, hört freilich in der Regel nichts Tröstliches. In der Volkssage ist es oft so, dass die Lauscher von ihrem bevorstehenden Tod erfahren; manchmal hecken die Tiere auch einen pädagogischen Streich aus. Vielleicht empören sich Ochs und Esel in diesem Jahr, in dem so viel von Kinderrechten geredet wurde, über die politische Heuchelei, die sich dahinter verbirgt - und präsentieren aus Protest diesmal eine leere Krippe.
Diese Krippe ohne Kind könnte ein kraftvolles Symbol sein: Ein Symbol für die Unbehaustheit, für die Verlassenheit und den Notstand vieler Kinder auch in einem Land wie dem unseren, das eines der reichsten der Erde ist. Die weihnachtliche Verehrung eines göttlichen Kindes wird nämlich in Frage gestellt, wenn Kinder ihre Kindheit als Leidensgeschichte erleben und verwahrlosen.
Der Notstand der Kinder
Die Volkskunst hat den Satz aus dem Johannes-Evangelium, wonach Gott "unter uns gewohnt hat", sehr wörtlich genommen und seine Genremotive daraus gewonnen. Wenn man das fortspinnt, dann steht die Krippe heute in einer Hartz-IV-Wohnung. Dort, wo sonst Ochs und Esel stehen, laufen Fernsehen und Video; die Eltern sind weg; es kommen nicht Hirten, sondern, wenn es gut geht, sorgende Leute vom Jugendamt; nicht Magier, sondern Nachbarn. Nicht der Stern, sondern ein kluges Recht weist den Weg in eine kinderfreundlichere Gesellschaft und weiß, dass Verlassenheit und Vernachlässigung nicht nur ein Armutsproblem, sondern auch ein Reichtumsproblem sein können.
Die Gesellschaft ist, ähnlich wie vor hundert Jahren, versucht, die Vernachlässigung von Kindern nur als individuell moralisches Problem zu sehen und etwa die Lebensumstände derer, die man als Rabenmütter bezeichnet, außer Acht zu lassen: Wer schwer belastet ist, dem wird ein Kind lästig. Die Zahl der Kinder, die von Hartz IV oder Sozialhilfe leben, steigt und steigt. Die Armut der Eltern ist wie ein Erb-Gefängnis für die Kinder.
Die Debatte um einen Mindestlohn hat auch etwas mit Kindern zu tun: Es geht nicht nur darum, unter welchen ökonomischen, sondern auch unter welchen emotionalen Vorzeichen Kinder aufwachsen; Zufriedenheit der Eltern färbt auf die Kinder ab. Vor hundert Jahren empörte sich die Monatsschrift für die christliche Familie über Eltern, die "sogar den Wiegenkindern Branntwein geben, damit sie schlafen sollen". Und der Moralapostel fragte: "Ist es da zu wundern, wenn Eltern ihre unheilvolle Aussaat schrecklich aufgehen sehen?" Aber er verliert kein Wort über die Not der Eltern, die sich um ein schlafendes Kind nicht zu kümmern brauchten und dann ihrer Arbeit nachgehen konnten. Kinderbetreuungsangebote gab es nicht; es gibt sie noch immer nicht in ausreichender Zahl.
Junge Mädchen dekorieren ihre Ordner gerne mit Baby-Bildern: nacktes Baby mit Blume auf dem Kopf; Baby im Kürbis; Baby auf Blatt im See. Diese Bilder sind nichts anderes als die Idylle, welche die Weihnachtsverniedlichung vorgaukelt. Darum wäre es nicht schlecht, wenn die Krippe einmal leer bliebe. Das könnte die Überlegungen dazu beflügeln, was dieser Gesellschaft fehlt.
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.296, Montag, den 24. Dezember 2007 , Seite 4


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