Offline
|
DvMf
Erstellt am So 12.02.2006
Wenn rot glühende Ventile mit aller Wucht hundert mal pro Sekunde auf ihren Sitz knallen, Kolben unter der Last von Tonnen ächzen und der Hinterreifen fast am Schmelzen ist, dann läuft der ganz normale Wahnsinn: VOLLGAS bei Höllentempo 270.
Den lauen Sonntagmorgen hatte sich die kleine Motte anders vorgestellt. Auf dem Heimweg vom Lichterfest geriet das Tierchen – schwups – in die nüstern eines fürchterlichen Raubtieres. Verzweifelt klammerte es sich an einem Gitter fest, doch die Strömung riss es erbarmungslos mit. Die Motte fand ihr Ende in den Waben des Luftfilters.
Von derlei Dramen ahnt der Fahrer nichts. Geduckt hinter der Verkleidung seines Supersportlers, einem Vierzylinders mit 160 PS aus einem Liter Hubraum, gibt er Vollgas, 270km/h stehen auf der Uhr, die Welt fliegt mit 75 Metern in der Sekunde an ihm vorbei. Logisch dass unsere kleine Motte dieser Gewalt nicht gewachsen war. Stehen die Drosselklappen bei 12000 /min auf Durchzug, verschwinden bei modernen, leistungsstarken 1000er-Vierzylindern gut 100 Liter Luft pro Sekunde im Ram-Air-Schlund, werden vom Luftfilter penibel gereinigt, in der Airbox auf vier Einlasskanäle verteilt und zischen am Engpass zwischen Ventilteller und Ventilsitz mit Überschallgeschwindigkeit in die Zylinder.
Das heist: schneller als 330Meter pro Sekunde oder 1188Km/h. Hurtig, hurtig, das Ganze. Muss aber so sein, denn für jeden Einlasstakt stehen nur ziemlich genau drei Tausendstellsekunden zur Verfügung. Eigentlich nicht vorstellbar, aber Realität. Randvoll mit Benzin-Luft-Gemisch befüllt, rammt der Kolben im Verdichtungstakt die expolsive Ladung innerhalb von 2,5 Tausendstellsekunden auf etwa ein Zwölftel seines Volumens zusammen, macht rechnerisch zwölf bar, wegen des Temperaturantiegs des Frischgasses ist der Druck aber deutlich höher.
Allein durch den Kompressionsvorgang und die Umgebungstemperatur von Kanälen, Brennraum und Zylinder erhitzt sich das Gemisch auf rund 500 Grad Celsius, bevor es kurz vor dem oberen Totpunkt durch den aufs grad genau zündenden Funken zu Expulsion gebracht wird. Im Brennraum steigt die Temperatur schlagartig auf 3000 Grad Celsius. Der Druck auf Kolben, Kolbenringe, Zylinderkopfdichtung und Ventile auf 90 bar. Anschaulicher ausgedrückt: Die Kraft auf den 73 Millimeter großen Kolben sowie das Pleuel mitsamt Kurbelwelle beträgt ziemlich exakt 3,7 Tonnen. Soviel wiegt ein voll beladener Kleintransporter.
Kein Wunder das sich der Kolbenbolzen unter einer solchen Last um 25 tausendstel Millimeter durchbiegt. Selbst die Seitenkraft, mit der der Kolben als Folge des schräg stehenden Pleuels an die Zylinderwand gepresst wird., erreicht im Arbeitstakt 200 Newton, was einer Gewichtskraft von 200 Kilogramm entspricht. Noch bevor der Kolben den unteren Totpunkt erreicht hat, öffnen die Auslassventile, das Inferno beginnt abzuebben, der Arbeitsdruck bricht zusammen.
Bei der folgenden Aufwärtsbewegung befördert der Kolben die heißen Abgase in Richtung Auspuffkrümmer. Für die Ventile ein Tanz in der Hölle, denn sie werden auf gut 800 Grad erhitzt und hämmern rot glühend zurück auf ihren Sitz. Da ist auch hochwertiger Stahlextrem gestresst. Nur ein hochlegierter Chrom-Nickel-Stahl, im Bereich der Ventilsitze zusätzlich gepanzert, übersteht solche Tortouren, ohne die Biege zu machen. Damit die erhitzten Motorenbauteile nicht in Rauch aufgehen, schaufelt die Wasserpumpe pro Sekunde rund zwei Liter Wasser durch die Kühlkanäle von Zylinder und Kopf.
Auf dem Weg zum oberen Totpunkt angekommen, wartet auf dem Kolben die nächste Zerreißprobe. Innerhalb von 25 Millimeter Hub wird er von seiner fast 134 km/h Höchstgeschwindigkeit bis zum absoluten Stillstand abgebremst und vom Pleuel mit aller Gewalt wieder in die Tiefe gerissen. Die dabei entstehenden Massenkräfte des 220 Gramm schweren Kolbens erreichen rund 12200 Newton, also mehr als eine Tonne Gewichtskraft, die das massive Stahlpleuel um 8 tausendstel Millimeter in die Länge zieht. Echte Marathon-Qualitäten in Sachen Laufleistung: Jeder einzelne Kolben mitsamt Kolbenringen gleitet im Zylinder auf 10000 Kilometer Fahrstrecke selbst bei Landsstraßen 2800 Kilometer auf und ab, ohne das dabei ein nennenswerter Verschleiß festzustellen wäre.
Diese 4 Arbeitstakte, die mit 4682 Worten beschrieben und in etwa 3 Minuten gelesen sind, legen den Grundstein für Drehmoment und Leistung. Allerdings läuft der beschriebene Arbeitsprozess in einer Hunderstelsekunde ab und wiederholt sich 6000-mal pro Minute, also mit halber Drehzahl.
Das Pleuel ist es dann, das die geradlinige Bewegung des Kolbens über dem Hubzapfen in die Rotation der Kurbelwelle umsetzt. Somit entsteht das Drehmoment von mehr als 100 Newtonmeter.
Auch in den Tiefen des Motorraums biegen und dehnen sich hochfeste, geschmiedete Stahlkonstruktionen unter der rasanten Dynamik, Hier, gleichsam im Hinterhof der Hölle, entsehen neben der elementaren Drehbewegung die Vibrationen. Denn kein Massenausgleich der Welt ist in der Lage, einem Hubkolbenmotor den schmeichelnd runden Lauf einer Turbine anzuerziehen. Gott sei Dank, schließlich sind neben dem Sound aus der Abteilung „Feuer und Flamme“ genau diese Lebenszeichen dafür verantwortlich, dass Motorradfahren noch einen ziemlich greifbaren Bezug zur puren Mechanik herstellt.
Thema melden
|