Kawasaki VN1700 Voyager

Familienoberhaupt

12. October 2010 Kawasaki führt eine erstaunliche Bandbreite der VN1700-Baureihe im Programm. Ausgemachtes Oberhaupt der Familie ist der Tourer Voyager, der die Reiselustigen unter den Cruiser-Fahrern in Versuchung führen will.

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Cruiser, chromblitzend, klassisch gestylt, mit reichlich Zierrat behangen und reisetauglich aufgemacht – das klingt verdächtig nach Harley-Davidson, schließlich verkauft sich schon seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten die Electra Gilde sowohl im Cruiser-Country USA als auch in Europa erfolgreich.

Japans Hersteller konnten da nur lange hinterher schauen, doch jetzt haben Nippons Söhne auch diese Marktlückebesetzt in Form der VN1700 Voyager beim Kawasaki-Händler.

Voyager (Reisender), der Name ist Programm. Die Maschine ist mit allem ausgestattet, was einen Trip so angenehm wie möglich machen kann: Ein vom Lenkerende aus bedienbarer Tempomat, eine riesige Verkleidung für umfassende Fahrtwindflaute, Stereoanlage mit zwei 20 Watt starken Lautsprechern, Anschluss für Bordkommunikation und mp3-Player, Bordcomputer mit fernbedienbarer Wechselanzeige, abschließbare Fächer in der Verkleidung, Steckdose und insgesamt über 125 Liter Stauraum, aufgeteilt in zwei Koffer und ein Topcase. Zwei Nebelscheinwerfer, vier Sturzbügel und ein komplettes Cockpit im Stil amerikanischer Straßenkreuzer der 60er Jahre, erweitert um ein sehr informatives LCD-Instrument, runden die Komplettausstattung der Marke „wunschlos-glücklich“ ab.

All das summiert sich auf der Waage zu üppigen 406 kg Lebendgewicht, da bleiben für die Zuladung gerade nur noch 168 kg übrig. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass sich die Voyager für Fernreisen geradezu aufdrängt. Neben der erwähnten Windstille sorgen vor allem das ultrabequeme Sitzambiente für die Besatzung inklusive flachen Trittbrettern für stressfreie Ausflüge bis zum Horizont und darüber hinaus.

Der sechste Gang ist als drehzahl- und spritsparender Overdrive ausgelegt, 20 Liter Benzinvorrat lassen eine ordentliche Reichweite zu, der mit Kohlefaser verstärkte Zahnriemen zum Hinterrad benötigt weder Wartung noch Pflege.

Als artgerechter Antrieb kommt bei einem Cruiser nur ein großvolumiger V2-Motor in Frage. Kawasaki hat einen solchen als Neuentwicklung im Programm, ein Derivat aus der nicht mehr gebauten VN1600 und der riesigen VN2000. Genau 1,7 Liter Hubraum misst das flüssigkeitsgekühlte Triebwerk mit dem fast quadratischen Hub-Bohrungsverhältnis von 102 x 104 Millimeter. Daraus holt der von einer Nockenwelle bediente Vierventiler eher bescheidene 73 PS, doch viel wichtiger ist in diesem Motorradgenre ein dickes Drehmoment. Und damit kann die Voyager allemal protzen, 136 Newtonmeter bei nur 2750 Umdrehungen stünden selbst einem Schiffsdiesel gut zu Gesicht.

Dabei entwickelt der im 50 Grad-Winkel gespreizte V-Twin seine Kraft auf eine sanft zurückhaltende Art, wobei er den Drehzahlbereich zwischen 2500 und 4000 U/min bevorzugt. Darüber wird es für die beiden Ausgleichswellen schwer, die bis dahin unterschwellig vorhandenen Vibrationen der auf einen Hubzapfen arbeitenden Pleuel im Zaum zu halten. Ein leichtes Pulsieren wird in Cruiser-Kreisen jedoch gern in Kauf genommen, schließlich entscheidet man sich ja auch ganz bewusst deshalb für einen Zweizylinder.

Die Benzinversorgung der bierglasgroßen Brennräume übernimmt eine neue, voll elektronische Einspritzanlage, bei der nur noch die Befehle vom Gasgriff aus mechanisch erteilt werden.
Bei Drehung des Gasgriffs wird per Seilzug eine Umlenkrolle am Drosselklappengehäuse betätigt. Der ebenfalls im Drosselklappengehäuse befindliche Positionssensor registriert diese Bewegung und sendet ein Signal an die Motorsteuerung, die wiederum die Drosselklappen über einen Gleichstrommotor aktiviert. Die Drosselklappenstellung wird dann vom Drosselklappen-Positionssensor​ an die ECU gemeldet. Da die Bewegung des Gasdrehgriffs weiterhin per Seilzug weitergegeben wird, ändert sich das Gefühl beim Gasgeben nicht.
Für die Drosselklappensteuerung kann die ECU sowohl Kraftstoffzufuhr (über die Einspritzung) wie Luftzufuhr (über die Drosselklappen) regeln, die bei idealer Konstellation Drosselklappenanordnung und die Einspritzanlage sorgen für ein seidenweiches, präzises Ansprechverhalten des Motors. Dank der elektronischen Steuerung von Kraftstoffeinspritzung und Luftzufuhr ist eine präzise Regelung der Leerlaufdrehzahl bei kaltem Motor möglich.

Fakt ist, dass die Voyager mit dem vollelektronischen System perfekt am Gas hängt und Drehbewegungen der rechten Hand vollkommen ruckfrei umsetzt.
Das mächtige Triebwerk wird von einem stabilen Doppelschleifenrohrrahmen aufgenommen, der durch intensive Feinarbeiten deutlich leichter als bei der Vorgängerin VN1600A ausfällt.

Durch die kompakte Bauweise verringert sich der Radstand gegenüber VN1600 und VN2000, was der Agilität zugute kommt. Vorn stützt sich der Rahmen über eine Teleskopgabel mit mächtigen 45er Standrohrdurchmessern, hinten über eine konventionelle Zweiarmschwinge mit zwei Federbeinen ab.

Im Fahrverhalten gibt sich die Voyager keine gravierende Blöße, sie liegt ruhig und stabil und erfreut mit einer für diese Gewichtsklasse guten Neutralität. Sieht man einmal von der Neigung ab, in Kurven eigenständig weiter in Schräglage abzukippen, als der Fahrer möchte. Daraufhin muss dieser korrigierend eingreifen.

Überhaupt Kurven: Je nach Radius sollten diese nicht zu schnell durchfahren werden, weil die voluminösen Trittbretter frühzeitig zu Boden gehen und sich außerdem eine gewisse Unruhe im Fahrwerk breit macht. Die Voyager ist halt kein schnelles Reisemotorrad à la Yamaha FJR und BMW K 1300 GT sondern ein Genusstourer im besten Sinne. Dementsprechend zeigt sich der Fahrkomfort über jeden Zweifel erhaben, die VN rollt über alle Frostaufbrüche und Schlaglöcher souverän hinweg.

Verzögert wird das Dickschiff mittels dreier Bremsscheiben, die untereinander durch das K-ACT-System (Kawasaki Coactive Braking Technology) verbunden sind. Dabei organisiert ein computergesteuertes System die optimale Bremskraftverteilung zwischen vorn und hinten sowie eine eventuell notwendige Bremskraftverstärkung. Wenn der Fahrer den Vorderradbremshebel oder das Hinterradbremspedal betätigt, wirkt die Bremsflüssigkeit wie bei herkömmlichen Bremssystemen direkt auf die Bremssattelkolben. Drucksensoren am vorderen und hinteren Hauptbremszylinder erkennen die vom Fahrer aufgewandte Bremskraft. Sensoren messen an Vorder- und Hinterrad die Fahrzeuggeschwindigkeit beim ersten Brems-Input, diese Information wird an das Bremssteuergerät weitergeleitet, welches dann die für maximale Bremseffizienz erforderliche zusätzliche Bremskraft ermittelt.
Motorgetriebene Flüssigkeitspumpen in den vorderen und hinteren Drucksteuergeräten erhöhen anschließend je nach Bedarf den Druck bei Betätigung des Hinterrad-Bremspedals auf den vorderen rechten Bremssattel und/oder bei Betätigung des vorderen Bremshebels den hinteren Bremssattel. In diesem System ist ebenfalls eine Antiblockierwirkung hinterlegt. In der Praxis arbeitet das System vor allem bei Aktivierung des ordentlich arbeitenden ABS sehr gut, allerdings sind trotz der Unterstützung hohe Hand- und Fußkräfte vonnöten. Die Bremswirkung ist bei voller Aktivierung indes absolut zufriedenstellend.

Genuss-Tourenfahrer werden sich über das vergleichsweise günstige Angebot mit kompletter Ausstattung, technischen Finessen und genretypischen Fahreigenschaften freuen, denn 18995 Euro sind gemessen am Gebotenen durchaus akzeptabel.

Technische Daten Kawasaki VN 1700 Voyager

Motor
Flüssigkeitsgekühlter 50-Grad-Zweizylinder-Viertakt-​V-Motor,​ je eine obenliegende, kettengetriebene Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Kipphebel, elektronische Benzineinspritzung mit 42 mm Drosselklappendurchmesser, Semi-Trockensumpfschmierung, geregelter Katalysator, E-Starter.
BohrungxHub: 102 x 104 mm
Hubraum: 1700 cm3
Maximale Motorleistung: 54 kW (73 PS) bei 5000 U/min
Maximales Drehmoment: 136 Nm bei 2750 U/min
Verdichtungsverhältnis: 9,5 : 1
Kraftübertragung: Hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Primärantrieb über Zahnräder, Sechsganggetriebe, Zahnriemen zum Hinterrad.

Fahrwerk
Doppelschleifen-Stahlrohrrahme​n,​ vorn Telegabel mit 45 mm Standrohrdurchmesser und 140 mm Federweg, Zweiarmschwinge mit zwei Federbeinen hinten, Federbasis stufenlos per Luftdruck, Zugstufendämpfung vierfach einstellbar, 80 mm Federweg.

Bremsen
Vorn 300-mm-Doppelscheibenbremse mit Vierkolben-Festsattel, hinten 300-mm-Einscheibenbremse mit Zweikolben-Schwimmsattel.
Räder: Leichtmetall-Gussräder, vorn 3.50 x 16, hinten 4.50 x 16
Bereifung: Vorn 130/90-16, hinten 170/70-16
Elektrik: 12 V, Drehstromlichtmaschine 655 W, Batterie 18 Ah

Maße und Gewichte
L/B/H: 2560/995/1550 mm
Leergewicht: 406 kg
Zuladung: 168 kg
Tankinhalt: 20,0 Liter
Sitzhöhe: 730 mm
Radstand: 1675 mm
Lenkkopfwinkel: 60 Grad
Nachlauf: 117 mm

Preis/Garantie/Inspektion
Preis: 18.995 Euro zzgl. NK
Garantie: Zwei Jahre ohne Kilometerbeschränkung
Inspektionsintervalle: 1.000 km, danach alle 6.000 km


Autor: Thilo Kozik



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