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Dirk0 17.04.2003

Ab durch die Mitte

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Ab durch die Mitte

Auf dem Bleistiftstrich durch Deutschland
Einmal mit dem Bike quer durch Deutschland, vom westlichsten zum östlichsten Punkt der Republik fahren, dass wollten wir. Eine Reise durch das Deutschland jenseits der Ballungszentren. Eine Tour durch das deutsche Outback, die wir zu Fuß, ohne Motorrad, beenden mussten.
Zum Wochenende wieder eine Story ;-) Die komplette Reportage mit vielen Bildern findet Ihr unter http://www.motorradkarawane.de​/repo/index.html​ (unter "Regionen" Deutschland auswählen) Viel Spaß beim Lesen!

Halb sechs morgens. Wüstes Telefonklingeln reißt uns aus dem Tiefschlaf. Orientierungslos sucht meine Hand nach dem Hörer. „Ihr Motorrad ist fort“, sagt die Stimme aus der Muschel. Minuten später stehen Diana und ich an der Rezeption unseres Hotels, ungläubig, fassungslos. Unsere Africa Twin, gestohlen! „Als ich vorhin aus dem Fenster sah, war sie weg, da hab ich Sie angerufen“, erklärt sich die Rezeptionistin. Und jetzt?

Milchiges Licht, dass sich auf dunkelgrünen Schreibtischunterlagen bricht, fahles Amtstubenbraun an den Wänden. Wir warten auf die Aufnahme unserer Diebstahlanzeige. Die Gedanken kreisen: Wie konnte das passieren?

Auf der Bleistiftlinie
Vor vier Tagen war ich alleine an der deutsch-niederländischen Grenze aufgebrochen, um dem schnurgeraden Bleistiftstrich zu folgen, den ich selber auf meine schon etwas zerfledderte Deutschland-Karte gezogen hatte. Fast waagerecht verlief er auf dem direkten Weg, von Isenbruch bei Heinsberg im Westen bis ein wenig nördlich von Görlitz im Osten.

Isenbruch? Nie gehört! Westlichster Punkt der Deutschlands seit dem Wiener Kongress 1815. Ein dunkler Grenzstein mit Bronzetafel markiert den Punkt. Die roten Backsteinhäuser auf deutscher Seite erinnern an Holland und die Leute im Selfkant, so wie die Gegend hier heißt, fühlen sich den Nachbarn der niederländischen Provinz Limburg auch heute noch stark verbunden. Die Windmühlen sind auch nicht weit, wenngleich die meisten mittlerweile nicht mehr Korn mahlen sondern Energie produzieren.

Energie ist das Zauberwort der Region. Die vielen Flüsse des Rheinlands haben sie zu einem an Grundwasser reichen Gebiet gemacht, dass die Braunkohleflöze nur wenig mit Sand, Kies und Tonschichten bedeckt hat. Von hier werden Köln und Düsseldorf mit Strom versorgt, geschöpft aus den gigantischen Gruben des Tagebaus bei Garzweiler. Das kleine Dorf existiert schon lange nicht mehr, die Häuser wurden von den gefräßigen Baggerschaufeln zum Frühstück verspiesen, die Menschen umgesiedelt in neue Dörfer. „Da hinten stehen die Wolkenfabriken“, erklärt mir Helmut, den ich am Aussichtspunkt bei den Riesenbaggern treffe und deutet auf die rauchenden Kraftwerksschlote am Horizont. „Das erzähle ich zumindest meinen meinen Kinder“, schmunzelt er in seinen schneeweißen Vollbart.

Niemandsland zwischen Altbier und Kölsch
Jenseits der Industriekulisse haben sich die kleinen Städte vor den Toren der Ballungszentren am Rhein ihre Eigenheiten bewahrt. Straßen ohne Bürgersteig zwängen sich durch die engen Häuserfluchten, die rot-weißen Fahnen vom Schützenfest flattern lustig im Sonnenschein. Und zwischen den Dörfern: Cruising-Time. Schnurstracks zieht die Allee in Richtung Vater Rhein und spuckt mich an der Zonser Fähre, im Niemandsland zwischen Altbier und Kölsch aus.

Mit dem Cruisen ist’s nach wenigen Kilometern auf der rechten Rheinseite vorbei. Das Bergische Land macht Schluss mit dem Einfach-vor-sich-hin-fahren. Die Kupplung schnalzt, die Stiefelspitzen suchen den Asphalt, hochdosierter Fahrspaß zwischen Kürten und Meinerzhagen. Dazwischen muss Zeit für eine Bergische Kaffeetafel sein. In Marienheide locken die Cafés mit Blick auf den Kirchturmspitze unwiderstehlich. Süße Waffeln, heiße Kirschen, Schlagsahne und Pumpernickel mit Rübenkraut bis selbst intensives Nachspülen mit Kaffee aus der Dröppelminna das Sättigungsgefühl nicht mehr übertünchen kann.

Kennst Du das? Pappsatt in den Sattel geklettert, die Sonne steht noch hoch am Himmel und trotzdem könntest Du jeden Augenblick beim Fahren einschlafen? Ich kämpfe gegen die Verdauungsmüdigkeit, fahre nur noch mit offenem Visier. Am Biggesee ist Feierabend, ohne Kaffee fahre ich keinen Meter mehr weiter! Feierabend haben hier aber noch mehr. Es wimmelt von Bikes am See, Freizeitkapitäne schippern vom Biggesee in den Listersee und zurück. Es ist Freitagnachmittag zwischen Bergischem und Sauerland.

Sechzig Pferde gegen Karl May
Die ersehnte Wirkung des Bohnentranks lässt zu wünschen übrig und so lasse ich die Attahöhle, das bedeutendste Sightseeing in Attendorn am Biggesee links liegen. Früher hätten mich auch keine zehn Pferde davon abgehalten, den Spuren Winnetous und Old Shatterhands zu folgen. Gleich um die Ecke in Elspe könnte ich bei den Karl-May-Festspielen noch gar nicht so alte Jungenderinnerungen hochleben lassen. Doch heute zerren sechzig Pferde an mir.

Sauerland, Land der tausend Berge, Land der tausend Kurven. Ich bin schon mittendrin, bewaldete Berge, oder was man hier so nennt um auf die Zahl Tausend zu kommen, sehe ich reichlich. Aber wo sind die Kurven? Richtung Schmallenberg habe ich mangels Alternative die Bundesstraße 236 erwischt. Ohne Kurven.

In Winkelhausen habe ich genug, Blinker links. Niedersorpe, Mittelsorpe, Obersorpe, bis Winterberg schlängelt sich das muntere Sträßchen. Jetzt, wo ich wieder hellwach bin, neigt sich die Sonne, in den dünnen Handschuhen beginnt es zu frösteln. Das Zentrum des sauerländischen Wintersports erfreut mit einem Imbiss, zwei Hände wärmen sich an einer Tasse Tee. In der alten Hansestadt ist kaum etwas los, off season. Dann und wann bollern motorisierte Hifi-Anlagen durch die Straßen, selbsternannte Disc-Jockeys beschallen ungefragt die Häuserfronten.

Noch bis zur Ruhrquelle, ein wenig abseits der B 480 fahre ich im letzten Dämmerlicht. Der Fußweg zur Quelle wird schon vom Dunkel der Bäume verschluckt, als ich beschließe, gleich hier an einer Schutzhütte mein Nachtlager aufzuschlagen. Isomatte und Schlafsack breite ich auf der kleinen Veranda der Notunterkunft aus, meine Augen suchen im milden Sternlicht noch eine Weile die Baumwipfel ab. Gute Nacht im Sauerland.

Die Morgensonne wirft noch lange Schatten, da habe ich schon wieder aufgesattelt. Zu kalt waren die ersten Minuten nach dem Aufwachen, als dass ich mich in fast gewohnt häuslicher Manier noch einmal hätte `rumdrehen mögen. Das eiskalte Wasser der Ruhrquelle spritz mir ins Gesicht, Katzenwäsche und Aufwachhilfe zugleich.

Das deutsche Outback ist hier
Dreispurig aber vollkommen leer präsentiert sich die Hochsauerlandhöhenstraße. Nebel steigt aus den Tälern auf, zackig steigt die Straße nach Herzhausen hinab. Eine Kreuzung, ein paar Häuser nicht mehr. Dazu der im unaufhörlichen Verfall begriffene Bahnhof hinter rostigen Gleisen. Deutschland, hier ist Dein Outback!

Auf der Staumauer der Edertalsperre dann die ersten Wanderer, im Kaffee nebenan ist Moppedtreff. Staunende Senioren, vor einer aufgemotzten Fighter-900RR. „Können Sie Maschine überhaupt halten?“ fragt mich ein Stockträger. Irgendwie scheint mir die kalte Nacht noch ins Gesicht geschrieben zu stehen. Wie sonst kommt der Pensionär darauf, mich harmlosen Enduristen mit einem martialischen Straßenkrieger zu verwechseln?

Ab Melsungen rollen die Pneus auf der deutschen Fachwerksstraße ostwärts zur Burg Spangenberg. Vor fast achthundert Jahren wurde die Festung oberhalb des pittoresken Orts gebaut und erlebte eine wechselvolle Geschichte: Von den Franzosen erobert, als Gefängnis missbraucht, von Amerikanern zerschossen und heute als Hotel mit Café genutzt, blieb den Mauern wenig erspart. Bei einem großen Eisbecher, der mir heute das Mittagessen ersetzt, sitze ich auf der Burgterrasse und lasse mich von der Landkarte verführen.

Mein Bleistiftstrich zieht geradlinig nach Osten über Bischofferode und Oetmannshausen. Doch nur zweifingerbreit nördlich liegt der Meißner, ein wenig hochtrabend als König der hessischen Berge gepriesen. Ob ich mir den kleinen Abstecher erlauben darf? Es muss ja keiner wissen, sag ich mir als ich nach Velmeden einbiege. Eine Allee weißblühender Bäume stiegt schnurstracks den Meißner hinan bis die Kurven die Oberhand gewinnen. Die rechte Entscheidung war’s, nicke ich mir unter durchs Visier zu als die Twin schneidig nach Bad Sooden an der Werra hinunterjagt.

Im Zentrum der Republik
Leicht von meiner Ideallinie abgekommen verlasse ich Hessen durch die Hintertür. Auf Schleichwegen pirsche ich mich ein Stück an der ehemaligen Grenze entlang. Im thüringischen Nationalpark Hainich kurz die Orientierung verloren, rolle ich in Niederdorla ein. Wieder beschleicht mich dieses Gefühl, dass ich in Herzhausen schon einmal hatte: Outback! Wäre da nicht etwas, auf das die Hiesigen besonders stolz sein können: Mit respektvollen Worten zitiert eine kleine Tafel neben dem Weiher des Dorfes wichtige Gelehrte unserer Tage, die neben dem Teich den Mittelpunkt der neuen Republik ausgemacht haben. Eine Linde, von einem kleinen Mäuerchen beschützt, ragt aus ihm hervor.

Irgendwie hatte ich mir diese Mitte spektakulärer vorgestellt. Ein Blick in das Herz des Landes, dass wär’s gewesen. Oder bin ich nur zu blind das Herz Deutschlands zu erkennen? Bislang bestand dieses Land für mich aus Hamburg, Berlin, Köln und München. Überheblichkeit oder Unwissenheit?

Noch in Gedanken fahre ich einen Schlenker Richtung Kyffhäuser. Kaiser Barbarossa soll hier in seinem unterirdischen Schloß auf bessere Zeiten harren. Die Biker auf dem Parkplatz vor dem Denkmal leben die guten Zeiten schon jetzt. Möglichst zügig von Kelbra zum Kyffhäuser hoch, das scheint das erklärte Ziel der Speedfraktion zu sein. Dazwischen Luxustourer und Chromsessel auf ihrem Sonntagnachmittagausflug. Selbst eine Polizeistreife hat es bei herrlichem Sonnenschein nicht auf der Wache gehalten.

Mit den Wassern von Unstrut und Saale treibe ich ins barocke Weißenfels. Überragt vom wuchtigen Barockschloss Augustusburg hat die Stadt seit fast 900 Jahren viel erlebt. Der Poet Novalis wurde hier geboren, Blücher, Napoleon und Friedrich II ließen vor den Toren Weißenfels’ Kanonen sprechen. Heute setzt man unter den rotgedeckten Dächern an der Saale auf die Vermarktung der Geschichte von einst.

Leipzig bleibt nördlich liegen und auch den Dresdner Zwinger werde ich auf meiner Route nicht berühren. Der Bleistiftstrich auf meiner Landkarte geht unbeirrbar an den großen Zentren vorbei. Doch im Dunstkreis der Zwingerstadt, an der sächsischen Weinstrasse komme ich mitten durch Meißen. Klar, Porzellan wird da seit 1710 hergestellt. Auf Schritt und Tritt begegnet man hier dem Steingut. In der Nikoleikirche zum Beispiel stehen die mit 2,5 Metern Höhe größten jemals geschaffenen Porzellanfiguren.

Das Porzellan in allen Ehren, aber die sächsische Weinstraße, oder besser ihre Produkte ziehen mich doch mehr in ihren Bann. Eine Flasche Meißner Kapitelberg passt noch locker in die Ortlieb-Satteltaschen. Die kann ich dann heute Abend schön mit Diana verkosten. Mit Ihr hatte ich mich jenseits der tschechischen Grenze verabredet. Und die rückt von Süden mit dem Lausitzer Bergland immer näher.

Schwer zu finden: Die Mahnmale des Gestern
Zu Füßen Berge liegt Bautzen, dass auch heute noch mit seiner Geschichte ringt. Fast habe ich den Eindruck, als gäbe man sich Mühe, die Spuren der Vergangenheit zu verwischen. Hinweisschilder weisen zu touristischen Attraktionen, zu den ehemaligen Gefängnissen aus der Zeit der Nationalsozialisten und des DDR-Regimes muss ich mich erst durchfragen.

In den Mauern von Bautzen II führten die Spitzel MfS mit einem ausgeklügelt diabolischen System Terror gegen die Inhaftierten. Entsetzte Gesichter sehe ich bei der Führung durch die ehemaligen Zellen, manch leiser Fluch kommt über die Lippen der älteren Besucher, als ein einstiger Insasse vom Gefängnisalltag berichtet. Vor den Toren der Haftanstalt brauchen viele, wie auch ich, ein paar Minuten um wieder ins Jetzt zu finden.

Wieder ins Jetzt finden! In den Räumen der Polizeistation bin ich ins Träumen geraten. Endlich können wir die Diebstahlanzeige für unserer Africa Twin aufgeben, zusehen, wie wir die letzte Etappe nach Görlitz zurücklegen können. Die Satteltaschen, die ich am Abend noch vom Motorrad genommen hatte drücken schwer in meine Schulter. Fast kommen wir uns vor wie Cowboys, denen man das Pferd gestohlen hat und die Ihren Sattel jetzt selber tragen dürfen.

Ohne Motorrad ans Ziel
Ein hellblauer Skoda hält neben uns, tschechisches Kennzeichen. Ob er uns mitnehmen könne, fragt das rosige Gesicht eines Spätfünfzigers. Nichts lieber als das und wenig später finden wir uns zwischen den reichen Bürgerhäusern der Görlitzer Altstadt wieder. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Grenzübergang nach Zgorzelec, mitten in der Stadt. Aus dem geteilten Berlin ist wieder eine Stadt geworden, Görlitz und Zgorzelec bleiben seit 1945 getrennt.

Ruhig zieht die Neiße vorüber. Im Café Vierradenmühle rühmt man sich, das östlichste Gasthaus Deutschlands zu sein. Gleich gegenüber ist Polen. Fast eine andere Welt aus farblosen Gebäuden, an denen die Zeit nagt. Einen Milchkaffee auf dem Tisch, breite ich noch einmal die Karte aus. 725 Kilometer trennen den Grenzstein bei Isenbruch von der Vierradenmühle. Der Bleistiftstrich trifft die blaue Linie der Lausitzer Neiße. Ende des Strichs, Ende einer Reise durch das andere Deutschland.

Kommentare


ABSENDEN

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Dirk0
Hallo Mathias,
auch wenn ich die Sprache des jeweiligen Landes nicht spreche, gab\'s mit der Verständigung nur selten Probleme. Mit Englisch, ein paar Brocken Franzöisch kommt man ja schon recht weit.
Vielfach hilft es auch zumindest die Begrüßungsfloskeln einer Sprache zu können. Die Bereitschaft, sich dann mit einem Fremden in einer fremden Sprache zu unterhalten steigt dann meiner Erfahrung nach. Häufig wirkt das, besonders bei eher seltenen Sprachen, als \"Türöffner\". Viele der Angesprochenen sind zunächst verdutzt, freuen sich dann sehr, dass sich jemand \"die Mühe macht\", ihre Sprache zu sprechen.
Es gibt für sehr viele Sprachen die sogenannten \"Kauderwelsch-Büchlein\",quot;Kauderwelsch-Büchlein\"Kauderwelsch-Büchlein\",​quot;,​ in denen die Grundlagen der jeweiligen Sprache einfach erklärt sind und viele praktische Beispiele zumindest eine Mini-Konversation ermöglichen.
Dann mal nix wie weg! ;-)
Herzliche Grüße
Dirk
(Danke für die gute Kritik!)
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Dirk0
Hallo Paule,
ich hab\'s mittlerweile verdaut, ist ja auch schon ein paar Tage her ;-)
Immer oben bleiben!
Dirk
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Dirk0
Einmal mit dem Bike quer durch Deutschland, vom westlichsten zum östlichsten Punkt der Republik fahren, dass wollten wir. Eine Reise durch das Deutschland jenseits der Ballungszentren. Eine Tour durch das deutsche Outback, die wir zu Fuß, ohne Motorrad, beenden mussten.  mehr...
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Missing_mini
Gelöschter Benutzer
Schön gemacht, der Bericht, volle Punktzahl. Wegen der gelungenen Bilder. Isenbruch kenn ich, liegt ein bischen versteckt. Dort, wo die Wolkenfabriken mit Braunkohle geheizt werden, da wohne ich.
Gruß: Peter
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