Alle FotoalbenTour melden
Offline
Dirk0 08.05.2003

Das fliegende Klassenzimmer

Wegstrecke 0 km
Länder/Regionen/
Wegpunkte
Südfrankreich
Straßenart
Tour-Motorrad
Schwierigkeit
Schlagworte
Alle 6 Kommentare anzeigen


Das fliegende Klassenzimmer

Motorrad-Eldorado Südfrankreich
Warum nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden? Im Motorradeldorado Südfrankreich besserte ich meine bescheidenen Französischkenntnisse auf. Und nach dem Unterricht hieß es: Aufsatteln!
Zum Wochenende wieder eine Story ;-) Die komplette Reportage mit vielen Bildern findet Ihr unter http://www.motorradkarawane.de​/repo/index.html​ (unter "Regionen" Frankreich auswählen, die Reportage steht dann an dritter Stelle) Viel Spaß beim Lesen!

"Vin Blanc heißt doch Weißwein, oder?" hatte mich Guido über zwei Regale des provinziell kleinen Supermarktes hinweg gefragt. Mit elementaren Französischkenntnissen, die immerhin neben vin blanc auch noch vin rouge kannten, signalisierte ich mit erhobenen Daumen meine Zustimmung. "Dann gibt's heute Abend Nudeln mit Weißweinsauce", frohlockte er. Am Strand von Cabasson lief uns das Wasser im Munde zusammen, als sich die hellgelbe Sauce mit den Teigwaren zu einer unvergleichlichen kulinarischen Komposition vereinte.

Unheilvolles Glas
Die Einmaligkeit unserer Kochkunst wurde uns allerdings schnell schmerzlich bewusst: Neben den uns bekannten Ausdrücken auf dem vermeintlichen Saucenglas fand sich eine Unzahl von Worten, die nicht zu unserem frankophonen Sprachschatz gehörten. Der wichtigste unter ihnen war Moutarde - Senf - gewesen. Im hohen Bogen spieen wir die Nudeln mit reinem Senf in den Sand. "Senf mit Weißwein verfeinert" hatte auf dem unheilvollen Glas gestanden. Der Hunger trieb uns, die Nudeln im Meerwasser von ihrer scharfen Sauce zu befreien und sie anschließend pur zu essen. Das war nicht schlimm, denn die verbrannten Geschmacksnerven registrierten ohnehin nichts mehr. "Man müsste mal richtig französisch lernen", war die Quintessenz des Abends.

Jetzt, Jahre später stehe ich in Nizza vor einem stuckverzierten Bau aus der Gründerzeit in der Avenue Notre-Dame. So richtig kann ich nicht glauben, dass ich hier wirklich für ein paar Wochen in die Schule gehen werde. Einziges Unterrichtsfach: Französisch. So richtig leicht war mir die Entscheidung nicht gefallen. Französisch hatte schon zu Schulzeiten nicht zu meinen Stärken gehört, doch die Senfnudeln von Cabasson hatten über Jahre nichts von ihrer mahnenden Wirkung verloren. Als dann als möglicher Kursort Nizza am Fuß der Seealpen und hart am Rande der Provence ins Spiel kam, hatte der Gedanke an zwei Wochen schönstes Motorradfahren nach Schulschluss letzte Zweifel über Sinn und Unsinn eines Sprachkurses in Frankreich beiseite geräumt.

Meine Klasse ist bunt gemischt: Mayumi aus Japan, Amy, Seana und Liam aus den USA, Marc aus Amsterdam, Rocio aus Sevilla und Erika aus Sao Paolo sind zur ersten Stunde bei Florence zusammengekommen. Mit ihrem ansteckenden Lachen hat Florence leichtes Spiel mit uns Schülern, auch wenn uns ihre Devise zunächst die Haare zu Berge stehen lässt: Gesprochen wird nur französisch. Beim Mittagessen auf der Einkaufsstraße Avenue Jean Medecin können wir schon erste Erfolge feiern und einen kleinen Schwatz mit der Bedienung halten.

Wie in seligen Sextanerzeiten
Flinken Fußes laufe ich danach die paar Meter bis zur Gemeinschaftswohnung auf dem Boulevard Carabacel. Die Schulsachen landen wie in seligen Sextanerzeiten auf dem Bett, um für die nächsten Stunden unbeachtet zu bleiben. Raus aus der Jeans, rein in die Moppedklamotten. Auf den alten Aufzug mit der Gittertür und den polierten Messingknöpfen kann ich nicht warten, laufe die vier Etagen immer zwei Stufen auf einmal nehmend hinunter. Voll hektischer Ungeduld, die sich mit der unbändigen Vorfreude auf herrliche Strecken und atemberaubende Landschaften einen Wettkampf liefert, mache ich die Twin startklar. Der Motor ist gerade angesprungen, da sticht mir die ungewohnte Leere des Klarsichtfach ins Auge. Die Landkarte liegt noch auf dem Bett.

Jetzt noch mal vier Etagen hoch laufen? Ach was! Die Nase verlangt nach Fahrtwind, der Kilometerzähler nach Drehung und der Geist nach einer Spritztour ins Azur-Blaue. Einmal rechts, immer Geradeaus bis zum Quai des États-Unis und dann Links am Meer entlang. Hier brandet der Verkehr wie die Wellen des Mittelmeers an den Kieselstrand. Gleich hinter der Felsnase des Schlossbergs macht die Uferstraße einen scharfen Knick - und ich traue meinen Augen nicht. Im Vieux Port ist von den malerischen alten Häusern rund um das Hafenbecken nichts zu sehen. Stattdessen stehe ich vor überdimensionalen silbergrauen Buchstaben auf weißem Grund. "Ferryterranée" prangt es in riesigen Lettern von der Autofähre Ile de Beauté. Kaum zu glauben, dass dieses gewaltige Schiff jemals - ohne irgendwo anzuecken - aus diesem Hafen wird auslaufen können.

Da, wo andere Küstenorte froh sind, eine Corniche zu haben, hat Nizza gleich drei. Petite, Moyenne und Grand Corniche rangeln um den Titel, die schönste Aussichtsstraße zwischen Nizza und Menton zu sein. Mehr der Zufall als der Wille schickt mich auf die Moyenne Corniche, ein heißes Stück Straße, auf dem in langen Kurven die Zeit wettgemacht werden soll, die im verknäulten Verkehr der Stadt verloren ging. Alle Cabrios dieser Welt üben sich hier für die nächste Rallye Monte Carlo. Ein mit Espradilles, Bermudas und flatterresistentem T-Shirt vor den Unbilden des schnellen Motorradfahrens geschützter FZR-Pilot kratzt am Streckenrekord. Immerhin, mit dem ausgestreckten rechten Bein grüßt er mich während des Überholens nach Art der hiesigen Motards.

Éze, die Perle im Straßenband der Moyenne Corniche, ragt wie ein schmaler Balkon 500 Meter über dem Meer in den Azur-Himmel. Friedrich Nietzsche philosophierte hier über Zarathustra, ein Ort, wo in stillen Zeiten fast jeder zu Geistesblitzen fähig wäre. Nur wenige Meter hinter Éze verzweigt sich die Küstenstraße. "La Turbie oder Monaco?" fragen die Wegweiser. Zwei Sekunden Bedenkzeit und die Pneus rollen nach La Turbie, wo sich Kaiser Augustus mit der Trophée des Alpes ein geschmeidiges Andenken an die Unterwerfung von 44 Bergvölkern hat setzen lassen.

Feierabendliche Aushilfsrennfahrer
Langsam beginnt sich das Fehlen der Landkarte als ärgerliche Konsequenz meiner mittäglichen Trägheit zu rächen. Wenn ich nicht über die schöne aber von feierabendlichen Aushilfsrennfahrern zur Grand-Prix-Strecke umfunktionierten Corniche zurückfahren will, muss ich mich so langsam aber sicher nach Norden orientieren und dann nach Westen auf die untergehende Sonne zuhalten. Unter den wenigen nach links abzweigenden Strecken scheint mir jene zum Mont Agel noch die beste Möglichkeit zu sein, die Küste im Rückspiegel verschwinden zu lassen. Hätte ich eine Karte dabeigehabt wüsste ich, dass ich in eine kilometerlange Sackgasse fahre, die fast tausend Meter über den protzigen Yachten von Monacos Hafen endet. Die Straßenlaternen brennen schon seit Stunden, als ich auf dem Boulevard Carabacel den Seiteständer ausklappe.

Das Klassenzimmer wird heute in die Altstadt verlegt. Vokabeltraining auf die anschauliche Art. Und ganz nebenbei bekommt die Horde Französischlehrlinge einen guten Einblick in den Alltag hinter den Fassaden aus Glanz und Pomp. Da lebt die ganz normale Stadt im Süden von la Grande France mit Verkehrschaos, Internetcafés, Straßenreinigung und rücken das makellose Abziehbild einer stilisierten Vorzeigestadt zurecht. Auf den kleinen Märkten in der Altstadt ist die Stadt noch unverfälscht. Die blondierte Fischverkäuferin lächelt der Kundschaft mit einer Zahnlücke entgegen, der Käsehändler schneidet großzügig ab und am Olivenstand kann man unter mehr als zehn verschiedenen Sorten auswählen. Die kleinen Schwarzen sind die leckersten, schließlich kommen sie aus dem Hinterland.

Florence klärt uns beim Altstadtrundgang weiter auf: "Die Gegend um Nizza ist wenig fruchtbar. Auf den steinigen Feldern gedeihen fast nur diese Oliven. Die Bauern halten sich genügsame Ziegen, die Fischer steuern Fische und Meeresfrüchte zum Speiseplan bei. So gibt es wenige Spezialitäten und", zwinkert sie, "der Salat Niçoise gehört bestimmt nicht dazu."

Der Atem des Orients
Fast wie in einem orientalischen Souk schlendern wir an Schweineköpfen, kiloschweren Seifenstücken und feiner Patisserie vorbei. Florence steuert im Zick-Zack-Kurs durch die angenehm schattigen Gassen das Chez René an, schließlich ist Mittagszeit. Zeit, uns Schülern die kleinen Besonderheiten der Küche Nizzas vor das Gaumensegel zu führen. Da wären beispielsweise die zündholzgroßen frittierten Fischlein, die mit Haut und Haar verspiesen werden. Dazu Socca, Fladenbrot aus Kichererbsenmehl und ein Pichet, ein Viertelliter Vin Rouge.

Ganz in ihrem Element, erzählt Florence von der Gründung Nizzas, der russischen Basilika jenseits des Bahnhofs und der Acropolis, dem modernen Kunstmuseum. Ich mühe mich zuzuhören, nehmen doch die Fischlein meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, "Die soll man ganz essen?", unterbreche ich ihren Redefluss. "Probier einfach", lacht sie mir entgegen und tatsächlich, sie schmecken. Fast wie Chips.

Wie sieht eigentlich das Nachmittagsprogramm aus? Der amerikanische Klassenteil macht sich für Cannes stark, wo sich einige Filmstars angesagt haben, Florence will sich am ruhigen Strand von Villefranche ein kleines Sonnenbad genehmigen, und Mayumi geht mit Marc ins Musée Matisse. "Et toi? Und Du ?", will Marc von mir wissen. "Un ballade à moto", brilliere ich mit meinem neuen Wortschatz, was letztlich heißt: Ich dreh' eine Runde mit dem Mopped.

Bullenheißer Tag
In den Vormittagsstunden der schattigen Vieille Ville hatte es sich schon angedeutet, jetzt, wo die Sonne ungehindert auf das Pflaster des Place Massena wird es zur Gewissheit: Heute ist ein bullenheißer Tag! Deshalb ab in die Berge, die sich bis auf 2000 Meter in die Seealpen hinaufschrauben. Und diesmal ist die Karte dabei!

Hinter dem Viadukt von L'Escarène duftet die Straße nach frischgebackenem Asphalt, eine Einladung zu einem Kurvenabenteuer, dass man selbst in den Hochalpen in dieser Form nur selten findet. Col de Braus, bei fünfzehn Prozent Steigung bleibt kein Platz für Geraden, Col de l'Orme, Col de Turini, des monegassischen Rallyefahrers Traumstrecke. Im idyllischen Sospel wäre vernünftigerweise eine Pause einzulegen, damit das Adrenalin wieder abgebaut werden kann.

Ich entschuldige mich vor mir selbst damit, dass es in Sospel noch viel, viel zu warm ist, um entspannt unter einem Sonnenschirm auf den Petit Noir zu warten. Col de Perus, Col de Brouis, hier werden kreuzbrave Familienväter auf harmlosen Tourern zu vierschrötigen Sportfahrern und Cruiserdirigenten verwünschen die Fußrasten ihres chromstrotzenden Lieblings. 879 Meter, die Passhöhe fliegt vorüber. War da nicht ein Café? Richtig, rote Sonnenschützer über einer weiten Terrasse mit grünen Plastikstühlen. Erst nach dem Wenden lese ich die großen roten Lettern auf der Giebelwand: "Auberge de Col de Brouis".

Die Dame des Hauses, vielleicht Mitte Vierzig serviert den Café Noir persönlich. Ihr Gesicht wirkt etwas verlebt, die Stimme ist vom Nikotin belegt. Aber freundlich ist sie und schenkt mir Gelegenheit, mein von Florence erworbenes Unterrichtswissen an die Frau bringen zu können. Ich wundere mich über ihre Engelsgeduld, wenn ich das richtige Wort nicht finde, oder einen Satz beginne, den ich nicht zu Ende führen kann. Sie habe Zeit, erklärt sie mir. Auch in der Hochsaison seien hier nicht viele Gäste, da käme die Geduld von ganz allein. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, zu gehen, ohne das ein weiterer Gast angekommen wäre, der ihr hätte Gesellschaft leisten können. Kaum zu glauben, dass in fünfundzwanzig Kilometern Luftlinie von hier das Leben an der Côte überbordet.

Französisch leicht gemacht
Florence hasst es, Vokabeln abzufragen oder tumbe Grammatik zu pauken. Viel lieber sollten wir zum Unterrichtsbeginn von unseren gestrigen Erlebnissen berichten. Auf französisch, ist klar. Amy, die kaffeebraune Sekretärin aus New Jersey will von Ihrem Besuch im Internetcafé berichten und muss mit Erstaunen feststellen, dass Computer überall auf der Welt Computer heißen, nur nicht in Frankreich. "Ordinateur", hilft Florence aus und räumt auf charmante Weise gleich mit einer ganzen Reihe weiterer Anglizismen auf. Nichts scheint dem konversationsverliebten Franzosen mehr zuwider zu sein, als fremdsprachige Ausdrücke dem Gehege seiner Zähne entfleuchen zu lassen.

Freitag Nachmittag, das Wochenende klopft ans die Klassenzimmertür. Zweieinhalb Tage frei, da lässt sich schon `was mit anfangen. Wie weit ist es eigentlich bis zum Verdon? Schlappe 150 Kilometer sind's über die Montagne de Cheiron nach Castellane und Moustiers-Ste Marie. Im lokalen Backtempel am Boulevard Jean Jaurès wird der Ortlieb-Sack mit dunklen Baguettes und einer ganzen Tüte Pain au chocolat vollgestopft. Fromage du Chèvre und die Zwei-Liter-Flasche Orangina komplettieren des Ausflüglers Picknick-Korb.

In Gedanken war ich wohl noch im erstklassigen Museum der Fondation Maeght in St. Paul de Vence, wo Miro und Chagall kraftvolle Zeugnisse ihres künstlerischen Schaffens hinterlassen haben. Sonst hätte ich den altersschwachen Simca sicher eher bemerkt. Vor Valderoure ist die Landschaft von feiner Hand modelliert, die Landstraße gleitet durch das weite Tal und der Motor summt sein Lied vom zweizylindrigen Leben. Aus dem Augenwinkel nur ganz nebenbei bemerkt, fährt auf einer Seitenstraße ein silbernes Auto heran. Ich wundere mich noch, dass der Fahrer sein Tempo nicht verringert, als er auf die Kreuzung mit meiner Landstraße zufährt.

Dem Kapuzenmann von der Klinge gesprungen
Und dann geht alles blitzschnell: Der Silberne und ich fahren zugleich in die Kreuzung ein. Panisch greife ich in die Bremsen, schreie unter dem Helm. Das Hinterrad bricht nach rechts aus, die ganze Fuhre schleudert auf den Wagen zu. Ich schließe die Augen, dann der Aufprall! Wo ist der Schmerz? Ich öffne die Augen und rolle auf der Gegenspur aus. Um Millimeter habe ich den silbernen Simca verfehlt. Der Fahrer fährt weiter, hat offenbar nichts bemerkt. Zwei Spaziergänger laufen zu mir, fassungslos, dass nichts geschehen ist. Ich zittere am ganzen Körper. Wenn man 18 Jahre nur auf dem Motorrad unterwegs ist braucht man neben Können und Vorsicht auch mal Glück. Aber, dass ich dem Kapuzenmann mal von der Klinge springen würde, hätte ich nie gedacht.

Die seelischen Folgen meines Beinahe-Unfalls verdaue ich in Moustiers-Ste. Marie, dem westlichen Tor zum Canyon du Verdon. Schlafen kann ich nicht richtig und so bin ich schon vor dem ersten Dämmerlicht wieder auf den Rädern. Hinein in die größte Schlucht Europas, oder besser gesagt, hinauf auf die Kammstraße der Corniche Sublime bei der Barre de l'Escalès. Nur langsam schafft sich die rötliche Morgensonne Platz am Himmel, macht Licht für eine Millionenjahre alte Aufführung im Amphitheater der Titanen. Riesenhafte Kulissenschieber haben die Felsmassen in spektakuläre Positionen geschoben. Die Wolken im Tal als Darsteller des Immerwiederkehrenden branden wie weiße Traumgestalten gegen die abgrundtiefen Steinmauern. Wie ein einziger reißender Strom zwängen sie sich an den zusammenrückenden Abhängen vorbei und treiben dann ruhig weiter um Mittags von der Glut Helios' verzehrt zu werden.

Erst gegen zehn Uhr haben sich die Wolken aus dem Tal zurückgezogen, die Zeit, in der auch die Freeclimber ihre Zeit gekommen sehen, lotrecht in den Schlund hinabzusteigen und dem Gestein Respekt abzuverlangen. Eigentlich hätte ich gerne eine Weile bei den Meistern der Vertikale zugebracht, aber der Frühstückshunger treibt mich nach Castellane. Im Sommer gleicht das kleine Örtchen einem Bienennest. Jeder, der auf der Nordseite des Verdon unterwegs ist muss hier vorbei. Jetzt, im Frühjahr herrscht hier noch eine beschauliche Ruhe, von der ich mich nur allzu gerne anstecken lasse.

Urgewalt eines Felsenmeers
Den Verdon hat man nicht gesehen, wenn man nicht auch die Südumfahrung gemacht hat. Im weiten Bogen über den Col du Bonhomme nähere ich mich ein zweites mal dem Canyon. Doch um jetzt erneut zur Urgewalt des Felsenmeers zu gelangen, führt der Weg über den Plan de Canjuers, ein riesiges militärisches Sperrgebiet. Erstaunlich, wie sich die Militärs Ihre Spielplätze immer wieder dort aussuchen, wo andere das Paradies wähnen. Unnötig zu fragen, in welcher Region ihres großen Landes unsere französischen Nachbarn ihre Atomwaffen lagern.

Vorbei an Geisterdörfern, Panzerstraßen und unzweideutigen Warnschildern rückt Comps sur Artuby näher. Das Dorf bemüht sich redlich die hässlichen Gedanken der letzten 15 Kilometer auszuräumen, aber so schnell vergisst man nicht. Ohne anzuhalten treibe ich die Enduro weiter bis zu den Balcons de Mescla, wo sich die türkisen Flüsse Artuby und Verdon in einer grandiosen Schleife vereinigen. Erst als die Venus am dunkelblauen Himmel aufgeht, neigt sich die verwinkelte Strecke vor dem Lac de Ste.-Croix talwärts. Weit im Westen ist für ein paar Minuten noch die Spitze des Mont Ventoux zu sehen. Ein schönes Ziel für Teil zwei des Wochenendausflugs.

Es gibt Leute, die jedes Jahr am gleichen Ort Ihren Urlaub verleben. Vielleicht, weil sie beim ersten Besuch viele schöne Erlebnisse sammeln konnten. Andere werden regelmäßig enttäuscht, wenn sie vergangenen Erinnerungen nacheilen. Ich gehöre zu letzteren und hätte es wissen sollen, als ich Roussillion mit seinen sagenhaften Ockersteinbrüchen ansteuerte. Ein idyllischer Ort, vielleicht ein wenig touristisch, aber immer im Rahmen des provenzalisch vertretbaren, so hatte ich ihn von früheren Reisen im Sinn. An den Ockerbrüchen hat sich wenig geändert, immer noch die beeindruckenden Höhlen, die ohne jede Abstützung auskommen. Doch im Ort scheint nicht mehr alles beim alten.

Zerstörte Erinnerung
Beim Versuch, der mittäglichen Nahrungsaufnahme nachzukommen werde ich gleich in drei Restaurants abgewiesen. Im einen verweist der Patron darauf, dass ich trotz besten Wetters nur drinnen statt auf der Aussichtsterrasse sitzen könne, auf der anderen Straßenseite sind die Tische reihenweise frei, aber leider, leider fände man keinen unbelegten Platz heuchelt der Maître. Nun, Roussillion hat offenbar ausgesorgt und kann es leisten, seine Gäste auszusuchen. Motorradfahrer scheinen nicht mehr zur Klientel gehören zu sollen.

Nur wenige Kilometer später in Gordes, wo sich Victor Vasarély sein Op-Art-Museum geschaffen hat, obsiegt wieder die Gastfreundschaft. Jean-Luc, der freundliche Kellner und Dominatorttreiber versorgt mich mit guten Essen und hervorragenden Streckentipps. Da wäre zum Beispiel die Gorges de la Nesque, gleich südlich des Ventoux. Eine schöne Einstimmung auf die Etappe an der Ostflanke des Tour de France erprobten Zweitausender, erklärt er.

Schöne Einstimmung! Eine pure Untertreibung, der ich da aufgesessen bin. Die Gorges de la Nesque sind ein regelrechter asphaltierter Hexenkessel, die Fahrbahn vom Feinsten und der Verkehr vom Wenigsten. Ein kleiner Abstecher in die , endet an wassergefüllten Felsbassins. Eiskaltes Wasser, dass sich im Talgrund nur wenige Stunden von den Sonnenstrahlen erwärmen lassen kann.

Berg der Winde
Am Ausgangsort der Schlucht, in Sault, ist von der Bilderbuchromantik Gordes' nicht viel erhalten. Aber dafür hat Sault noch mehr Flair, wirkt ursprünglicher und echter. Vielleicht, weil es jenseits der großen Verkehrsströme liegt und die Landwirtschaft wegen der harten Böden nie zu wirklichem Reichtum gekommen ist. Die im Winter kargen und öden Böden tauchen die Landschaft jetzt in ein lilafarbenes Meer aus Lavendel und Sault wird zur Insel des Lavendeldufts.

Unter den Platanen auf dem Kiesplatz spielen die Dorfältesten eine Partie Pétanque, beschattet von den alten Platanen am Café. Zweimal abzweigen, die symphatische Insel im Lavendelmeer liegt hinter, der Mont Ventoux als Fujijama der Provence vor mir. Die Tour-de-France-Helden kämpfen sich jedes Jahr hinauf und wenn gerade nicht Tour-Zeit ist gibt's immer genügend Radler, die es ihnen gleichtun wollen. Ihretwegen und immer noch ein wenig unter dem Eindruck des Simca-Erlebnisses lasse ich es bei der Bergfahrt sachte angehen. Der Straßenbelag hat zudem Pizzabäckerqualität und rät ebenfalls zu moderaten Tempi.

Auf dem kahlen Gipfel am Col de Tempêtes, pfeift ein eisiger Wind und lässt zuerst Ohren und Nase frieren. Doch der Ausblick, der vom Rhônetal bis zu den Seealpen reicht, entschädigt zweifelsfrei. Fast meine ich, man könnte das Mittelmeer erkennen. Dabei fällt mir ein, dass ich die Heimreise so langsam antreten müsste. Nein, nicht nach Hause! Nach Nizza, schließlich habe ich ja noch eine Woche Schule. Rückblickend habe ich mich nie so auf die Schule gefreut, wie jetzt. Das liegst sicher daran, dass ich mein Ziel vor Augen habe, zumindest soviel französisch zu lernen, dass ich nie wieder Senfnudeln essen muss. Oder liegt's doch am Motorrad-Eldorado Südfrankreich? A la prochaine!

Kommentare


ABSENDEN

Missing_mini
Gelöschter Benutzer
Toller Bericht, Klasse Bilder, 10 Punkte! Französisch für Anfänger:
la rue - die Ruhe
de Gaulle - das Pferd
Ist ja schon gut, ich verschwinde!
Gruß: Peter
Kommentar melden
Offline
waschbaer89
jajajajaja!!!!!!!!!
geil isses dort.
das erinnert mich an den schönsten urlaub. wir hatten in sault paar übernachtungen und wenn du schon in gordes warst, gleich um die ecke ist das kloster senac.das liegt total idylisch im tal zwischen lavendelfeldern. das hab ich mir zu meinem lieblingsplaz da unten auserkoren :-)))
danke für den schönen bericht
gruß der waschbär
Kommentar melden
Offline
heike1303
Hi Dirk
Als grosser Frankreich Fan hab ich den Bericht bereits gelesen, aber ich hab ihn mir noch mal angetan und nun zuckt die rechte Hand so fürchterlich.
Gut wohne ich in einer ansolut klassen Motorrad geeigneten Ecke unserer schönen Erde. So werde ich das zucken evtl. wieder in den Griff bekommen.
Gruss Heike, die dieses Jahr nur den Norden von Frankreich befährt.
Kommentar melden
Offline
siggi0304
Hallo Dirk,
boah, super...
Bin begeistert von Deinem Bericht. Und dann die Bilder...
Am liebsten möchte man gleich losfahren.
So kann lernen doch wirklich Spass machen! Vor allem, wenn soviel Zeit bleibt, das Land auf 2 Rädern kennenzulernen.
Allerdings, auf den Alptraum an der Kreuzung hättest Du bestimmt liebend gerne verzichtet? Glücklicherweise ist es glimpflich abgegangen!
Wünsche Dir viele weitere Touren und immer dieses Glück!
LG Sigrid
Kommentar melden
Offline
Dirk0
Warum nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden? Im Motorradeldorado Südfrankreich besserte ich meine bescheidenen Französischkenntnisse auf. Und nach dem Unterricht hieß es: Aufsatteln!  mehr...
Kommentar melden
Missing_mini
Gelöschter Benutzer
Hallo Dirk0,
wow, was für ein bericht, was für bilder ! :-)
ich finde deine berichte und die art und weise
wie du sie in wort und bild vereinst grossartig.
diesen bericht habe ich gerade zu verschlungen, da
ich in exakt 5 wochen auch zum erstenmal mit dem
motorrad in nizza sein werde und grosse teile
deiner beschriebenen route nachfahre.
ich stoss dort dann mal auf dein wohl an und
sehe zu, das ich keine nudeln mit senfsauce
essen werde. ;-)
linke hand zum gruss
Searcher
Kommentar melden
[Anzeige]

Ähnliche Touren