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Dirk0 17.06.2003

Die Mechanismen der Freude

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Die Mechanismen der Freude

Route des Grandes Alpes
Jahrelang hat ich mir am Col de Galibier die Zähne ausgebissen. Auf meiner neuen Alpentour wollte ich den Alpenklassiker endlich bezwingen. Doch so einfach lässt sich einer der höchsten Alpenpässe nicht niederringen.
Die komplette Reportage mit vielen Bildern findet Ihr wie immer unter http://www.motorradkarawane.de​/repo/index.html​ (unter "Regionen" Alpen auswählen, die Reportage steht dann an an erster Stelle) Viel Spaß beim Lesen!

Kennst Du den Galibier? Den grandiosen Pass in den französischen Alpen? Mit 2650 m gehört er zu den ganz Großen und seit Jahren verwehrt er mir die Überfahrt. Nun ja, man könnte auch sagen, dass ich bei meinem bisherigen Anläufen nicht sonderlich auf die Wintersperre geachtet habe. Nicht, dass ich in den Wintermonaten hinauf gewollt hätte. Aber wenn im Mai die Täler schon in voller Blüte stehen, die Sonnenschirme in den Straßencafés ihrer Schutzaufgabe nur noch unzureichend nachkommen können und sich in der Moppedjacke ein tropisches Mikroklima gebildet hat, dann kann man doch nicht wirklich glauben, dass dort oben noch unpassierbare Schneemassen den Weg versperren, oder?
Wie oft wird nach dem Rechten gesehen?
Ich wollte es schon mehrfach nicht glauben und bin immer gescheitert. Am hoffnungsvollsten hatte sich vor Jahren noch der Anlauf mit zwei Freunden gemacht, als wir von St. Michel-de-Maurienne die Nordrampe in Angriff genommen hatten. Sicher, im Maurienne-Tal waren unübersehbare Hinweise auf die Sperre angebracht, aber - mal im Ernst - was glaubst Du, wie oft der Straßenwärter dort oben nach dem Rechten sieht? Vielleicht hatte ja auch nur jemand vergessen, die Schilder zu entfernen. Meiner Phantasie, warum der Galibier doch schon geöffnet sein könnte, waren keine Grenzen gesetzt.
Zu dritt überquerten wir die Brücke über den Arc, hatte noch eine kurze, aber gute Aussicht auf die Festung von St. Michel und konnten uns ungestört dem Hexentanz durch die Serpentinen des Col du Télégraphe hingeben. Der Télégraphe dient dem Galibier wie eine steile Treppe, die erklommen werden will, bevor man sich dem grauen Riesen selber widmen darf. Das Café auf 1566 Metern Höhe hatte schon geöffnet. Warum, so fragten wir uns, sollte der Galibier gesperrt sein, wenn der hiesige Gastronom schon auf vorbeifahrende Kundschaft schielt?

Voller Optimismus steuerten wir den Sattel des Übergangs an, fuhren zwischen meterhohen Schneewänden hindurch bis der Asphalt unter einer weißen Schicht verschwand. Die Motorräder wie rohe Eier auf dem glitschigen Untergrund balancierend, behielten wir unsere Zuversicht. Schließlich konnten wir die Passhöhe schon mit bloßem Auge erkennen und weniger als ein Kilometer trennten uns vom glücklichen Ausgang des Abenteuers. Nur eine orangefarbene Schneefräse machte mit Ihrer Anwesenheit alle Hoffnungen mit einem Schlag zunichte. Im Schneckentempo fraß sich das Gerät durch eine riesige Schneewand. Eine Woche, so erklärten uns die Arbeiter, würde es noch dauern bis der Weg nach Briancon und in den sonnigen Süden frei sei. Und wieder war der Galibier-Traum ausgeträumt.

Jetzt steuere ich wieder auf den Klassiker der Westalpen zu. Allerdings ist das unsichere Frühjahr mittlerweile einem wohlmeinenden Sommer gewichen. Die Bäderstadt Thonon am Südufer des Genfer Sees, wo auch die Route des Grandes Alpes ihren Ursprung hat, ist mein Startpunkt in die französischen Alpen. Auf Motorradfahrers Hitliste sind die Cols de Feu, de la Ramaz, de Savolière und Corbier im Chablais echte No-names. Völlig zu unrecht, denn hier ist das ideale Trainingsrevier für die großen Alpenpässe. Völlig ungestört tasten die Stiefelspitzen im endlosen Kurven-wirr-warr nach dem Asphalt.

Schweizer Käseloch
Der direkte Weg nach Süden würde über die wenig attraktive Strecke Cluses-Sallanches und weiter in die Olympiastadt Albertville führen. Doch nach den Kurvenräubereien im Chablais steht mir der Sinn nach nicht nach eintönigen Nationalstraßen. Mit dem Pas de Morgins beginnt eine kurze eidgenössische Stippvisite, die den Großen St. Bernhard zum Ziel hat. Das makellose Teerband lässt den Twin satt auf der Straße liegen und macht in weichen Bögen die galeriengeschützte Auffahrt zum Pass der Bernhardiner zum Kinderspiel. Vor dem Schweizer Käseloch des Tunnels beginnt auf der alten Passstraße der coole Teil der Route.
Von den Wintermonaten gezeichnet lupft mich der brüchige Asphalt in einem guten Dutzend Kurven auf die Passhöhe. Weiß-braune Plüsch-Bernhardiner halten in den Souvenir-Shops Ausschau nach neuen Herrchen, während im kleinen Museum nebenan die Geschichte der Suchhunde beleuchtet wird. Und dann steht eine Abfahrt der Superlative an: Der Kehrenrausch hinab ins Aostatal sucht seinesgleichen. Runterschalten, Bremsen, ab in die Kurve, für ein paar Meter den Gaszug in Bewegung bringen und dann wieder runter in zweiten Gang und das Ganze von vorn. Herrlich!
Für ein paar kurze Kilometer in Bella Italia windet sich die SS 26 neben der Autobahn entlang bis die vierspurige Fernstraße bei Courmayeur vom Mont-Blanc-Tunnel verschluckt wird. Der höchste Berg Europas drängt sich mit seiner makellos weißen Eismütze ab jetzt immer öfter ins Sichtfeld. Doch vor dem Sattel des Kleinen St. Bernhard-Passes bleibt keine rechte Zeit ihm die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Zu flink ändert die Route immer wieder ihre Richtung und fordert die ganze Aufmerksamkeit. Der kleine Bruder des Col du Grand St. Bernard hat es faustdick hinter den Ohren.
Warnende Geste
Im Gegenlicht der Nachmittagssonne strahlt die Figur des Heiligen St. Bernhard vom Sockel bemooster Steine und grüßt die Vorbeifahrenden mit erhobener Hand. Vielleicht auch mit warnender Geste, denn die Abfahrt endet mit einem fulminanten Wirbel an Kehren, der man sich nicht unvorbereitet hingeben sollte.
In Bourg-St. Maurice klappe ich den Seitenständer vor dem Café am zentralen Kreisverkehr aus. Der Kellner hat nur kurz Zeit für mich, im Innern des Kaffeehauses läuft die Live-Reportage von der Tour de France. Vielleicht ist auch deshalb so wenig los auf den Straßen, weil die Tour in Frankreich fast einen höheren Stellenwert als die Fußball-WM genießt.
Frisch gestärkt kann ich die letzte Etappe des Tages in Angriff nehmen: den Col de l’Iseran. Sein Markenzeichen sind die vielen, zum Teil unbeleuchteten Tunnel auf dem Weg ins Wintersportmekka Val d’Isère. Zu Schneezeiten mag das Städtchen am jungen Lauf der Isère noch ganz idyllisch wirken, aber jetzt wo kein weißes Deckmäntelchen die Bausünden bedeckt, lädt es nur zur Weiterfahrt ein.
Husch-husch in den Sattel
Um der Abenddämmerung und der hereinbrechenden Dunkelheit noch ein Schnippchen zu schlagen, lasse ich der Twin freien Lauf und fast im Sturm erreichen wir den 2770 Meter hohen Übergang vom Tal Tarentaise in die Maurienne. Schnell ein Erinnerungsphoto vom steinernen Wegweiser auf der Passhöhe geschossen und husch-husch wieder in den Sattel. Nicht nur die Zeit drängt, auch der eisig schneidende Abendwind macht jede Minute Aufenthalt in der unwirklichen Bergwelt zur frostigen Qual. Im letzten Büchsenlicht rolle ich in Bonneval-sur-Arc ein und kann mich im einem Chambre d’hote bei einem freundlich besorgten Ehepaar einquartieren.
Langsam steigt der graue Frühnebel aus dem Tal empor, heute ist der langersehnte Tag. Heute ist Galibier-Tag! Frohgelaunt knipse ich das Lebenslicht des Zweizylinders an, und schaukle in langen Bögen ins Tal. Unter dem Helm ertönen fröhliche Lieder angesichts des wunderbaren Fahrtages, der mir die wärmende Sonne ins Gesicht hält. Doch plötzlich verstummt der Gesang.
Kurz hinter Modane, vielleicht zehn Kilometer vor dem Einstieg zum Col du Télégraphe sehe ich den roten Rücklichtern eines Staus entgegen. Vielleicht ungewöhnlich in der Gegend, aber als halber Ruhrgebietler bin ich stauerprobt und fahre lässig an den Wartenden vorüber. Eigenartig nur, dass die Staufreunde die Motoren ihrer Blechdosen ausgeschaltet haben. Ein echter Franzose geht bei laufendem Motor einkaufen, oder ins Café. Woher dieses plötzliche Umweltbewusstsein? In St. Michel stoße ich auf die Ursache des alpinen Verkehrsinfarkts: Wegen der Tour de France ist der Col de Galibier gesperrt! Das kann doch nicht wahr sein!
Perfide Mittel
Dutzendweise lagern Biker an der Absperrung vor der verlockenden Auffahrt, einige schon seit Stunden. Der Galibier hat sich gegen mich verschworen und scheut offenbar auch vor dem perfidesten Mitteln nicht zurück mich an der Überquerung zu hindern. Was wird er sich wohl beim nächsten Mal einfallen lassen? Ich kann nicht wie die anderen stundenlang vor dem gesperrten Pass hocken bleiben und wende spornstreichs. Mein Entschluss steht felsenfest: das Thema Galibier wird ein für alle Mal beerdigt. Es gibt auch noch andere Pässe, pah!
In Lanslebourg zweigt die Straße zum Col de Mont Cenis ab. Genau das richtige, um meinem Groll gegen den Galibier ein Ende zu setzen. Die Baumgrenze bleibt schnell zurück und dann liegt der Lac du Mont Cenis wie ein magisches blaues Auge in den Bergen vor mir. Gleich mit der Talfahrt wechselt die Route von Frankreich nach Italien um im Tal von Susa über den schneidigen Col de Montgenèvre wieder nach Frankreich einzufahren. Briancon, die alte Festungsstadt von Meister Vauban entworfen, ist schon zu erkennen. Sie ist auch die erste Stadt auf die man nach der Überquerung des Galibiers stößt. Ob ich vielleicht doch noch mal...
Unvernunft ist ein Eigenschaft, die sich nicht jeder leisten will. An der Kreuzung im Herzen des historischen Briancon setze ich den Blinker nach rechts und steuere wieder nach Norden statt nach Süden. Der Col de Lautaret ist einer der wenigen Pässe, von dessen Passspitze ein noch höherer abzweigt. Richtig, der Galibier! Und hier am Lautaret ist keine Sperre, keine Tour de France, nichts.
Doch gepackt!
Ein Grinsen macht sich hinter dem Visier breit, dass sich bis zu den letzten Metern zur Orientierungstafel auf dem Col de Galibier hält. Tief durchatmend genieße ich den kleinen Triumph über den grandiosen Gipfeln des Vanoise-Massivs.
Nach der Pflicht nun die Kür! Mit dem Col d’Izoard gönne ich mir ein Sahnestück aus der Torte der Alpenpässe. Die Strecke wieselt nur so vor sich hin, dass die Stiefelspitzen bald Kontakt mit dem Asphalt aufnehmen. Das Highlight aber ist die Tour durch die vegetationslose Mondlandschaft der Chasse Déserte mit ihren scharfen Felszacken.
Kurzer Zwischenstop in Guillestre in der Mittagssonne und dann lockt der Col de Vars. Die Straßenbauer haben ihn etwas stiefmütterlich behandelt und verpassten ihm keine so spektakuläre Streckenführung wie den anderen Pässen. Dafür kann sich das Auge hier wieder erholen. Angenehm kühle Wälder, fette Wiesen, kleine Weiher, ein Paradies im Kleinen.
Unglaublich Türkis
Ein kleiner Abstecher führt mich an den Lac de Serre Poncon, wo die Durance mit ihrem unglaublich türkisen Wasser gestaut wird. Im Eiscafé bei der Brücke über den See muss die Landkarte noch mal herhalten. Drei Pässe führen nach Süden: Col d’Allos, Col de la Cayolle und der höchste asphaltierte Alpenübergang, der Col de la Bonette.
Mit dem Cayolle wähle ich den Mittelweg, der mich mitten in ein Schlechtwettergebiet hineinführt. Eine dicke neblige Suppe verschluckt alles was mehr als zwanzig Meter entfernt ist. Erst im Tal bei Guillaumes lugt die Sonne wieder durch den Himmel und erhellt die rotbraunen Abgründe der Gorges Superieure de Cians.

In Rigaud treibt mich die Neugier aus der Schlucht hinauf auf eine Anhöhe, mit einer Kappelle, die aus einem Italo-Western von Sergio Leone stammen könnte. Doch es ist weniger die Wildwest-Atmosphäre als das Gefühl, endlich im Süden angekommen zu sein. Das Meer ist zum Greifen nah, die Berge liegen hinter mir. Wirklich? Naja, nur wenige Kilometer östlich von hier toben die wildesten Kurven zwischen Wien und Nizza. Da kann man doch nicht einfach vorbeifahren, oder? Es muss ja nicht immer der Galibier sein.

Die Bilder zur Reportage findet Ihr wie immer unter http://www.motorradkarawane.de​/repo/index.html​ (unter "Regionen" Alpen auswählen, die Reportage steht dann an an erster Stelle).

Kommentare


ABSENDEN

Missing_mini
Gelöschter Benutzer
Hi Dirk,
wieder ein wunderschöner bericht von dir, zumal ich über einige pässe vor wenigen tagen gekommen bin. ein wirklich schones fleckchen natur liegt dort. nur im gegensatz zu dir, habe ich den galibier im ersten anlauf gepackt und war alleine in seinen kurven verschlungen.
ein bericht über meine tour wird in den nächsten tagen folgen, mal sehen ob er dir gefällt.
bis dahin verbleibe ich mit einer
linken hand und rechtem fuss zum gruss
Searcher
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Dirk0
Jahrelang hat ich mir am Col de Galibier die Zähne ausgebissen. Auf meiner neuen Alpentour wollte ich den Alpenklassiker endlich bezwingen. Doch so einfach lässt sich einer der höchsten Alpenpässe nicht niederringen.  mehr...
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Missing_mini
Gelöschter Benutzer
Toller Bericht, klasse Bilder, 10P. Die beschriebenen Pässe kenne ich alle. Am besten gefiel mir die Mondlandschaft am Izoard. Und das schönste Bild: Die blühende Wiese am Mt. Cenis. Vom Bonette geht noch ein kurzer Fußweg weiter rauf, bis ganz oben. Dort meint man auf dem höchsten Punkt dieser Bergwelt zu stehen! So toll ist von dort die Aussicht. Wenn nicht gerade die Wolken den Blick verstellen.
Peter
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